Klingebiels Kunst in der Musik
Schon 2014 entstand aus einem Gedankenaustausch mit Prof. Walter Nußbaum, dem künstlerischen Leiter und Dirigenten des KlangForum Heidelberg, die Idee, Klingebiels Geschichte in der Sprache der Musik neu zu erzählen.
Das KlangForum hat über Jahre Uraufführungen von Komponisten ermöglicht, die sich mit der bildenden Kunst in der Sammlung Prinzhorn auseinandergesetzt haben (vgl. Beyme und Röske, 2014: "ungesehen und unerhört", Band 2) (Ansicht und Hörproben).
Wir wandten uns damals an den Wiener Komponisten Clemens Gadenstätter, Hochschullehrer für Komposition in Graz. Der Funke sprang über: Er thematisierte die Bilderwelt und die Lebensgeschichte von Julius Klingebiel in seinem 2020 fertiggestellten Werk "die zelle" (Uraufführung 2020, Heidelberg) für Stimmen, Ensemble, Elektronik. Die erste Seite der Partitur sehen Sie hier (mit freundlicher Genehmigung des Komponisten).
Gadenstätter legte großen Wert auf die biografischen und historischer Bezüge und arbeitete sich im Austausch mit dem Autor dieser homepage intensiv in die Hintergründe ein. Gleiches gilt für seine Librettistin, die Schriftstellerin und Dichterin Lisa Spalt aus Linz. Ihr Libretto lesen Sie hier. Der Text hat drei Ebenen: Ein (fiktiver) persönlicher Brief an Klingebiel - die Aufzählung biografischer Ereignisse - eine literarische Transformation der Zelle.
Im Programmheft (Klangforum Heidelberg, 2020) kommen neben Gadenstätter ein weiterer Komponist und eine Komponistin zu Wort, Ye Shen und Yu-Hui Chang. Beide hatten spannende Auftragskompositionen zum Thema beigesteuert. Kulturhistorische und philosophische Beiträge der Sinologin Barbara Mittler vertiefen das Thema der Konzertreise "eingesperrt".
Eine Konzertreise im Corona-Jahr 2020
Aufführung am 26.10.2020, Lokhalle Göttingen.
Foto: Projektarchiv
Das international renommierte KlangForum Heidelberg hat trotz schwieriger Rahmenbedingungen seine Konzertreise mit dem Titel "eingesperrt" durchgeführt.
Drei Werke sind am 24.10.2020 um 20:00 in Heidelberg an der Lutherkirche zur Uraufführung gekommen.
Unter Leitung von Walter Nußbaum brachten die SCHOLA HEIDELBERG | ensemble aisthesis
eine Komposition des Wiener Komponisten Clemens Gadenstätter ein Werk zum Klingen, in deren Mittelpunkt das Leben und Werk von Julius Klingebiel steht:
"die zelle" (UA) (2020).
Weiter waren zu hören
"Saving Faces" (UA) (2020), ein Werk der taiwanesisch-amerikanischen Komponistin Yu-Hui Chang
" 空间/距离 Raum/Distanz (UA) (2020) von Ye Shen aus Shanghai.
Die weiteren Aufführungen:waren
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am 25.10.2020 um 20:00 am ZKM Karlsruhe
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am 26.10.2020 um 20:00 in Göttingen, Lokhalle
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am 27.10.2020 um 18:30 im Sprengel Museum Hannover
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am 28.10.2020 um 20:00 in Oldenburg, Theater Wrede +
In Kooperation mit dem KlangForum konnten wir unsere fotografische Replik der Klingebielzelle am 26.10.2020 in Göttingen ausstellen. Wir danken in diesem Zusammenhang der Calenberg-Grubenhagenschen Landschaft für Ihre Unterstützung.
Das ausführliche Programmheft enthält philosophische Beiträge, Konzeptionen der Komponisten, Libretti und Kurzportraits. Pressestimmen finden Sie im Ordner Medienecho.
Aus der Ankündigung des KlangForum Heidelberg:
Unser Projekt "EINGESPERRT" widmet sich zum einen Teil dem Schicksal eines gesellschaftlichen Außenseiters: Der deutsche Künstler Julius Klingebiel (1904-1965) war ein „Anderer“, ein als krank Ausgegrenzter. Er litt an paranoider Schizophrenie und wurde deshalb ab 1939 in mehrere Nervenkliniken eingewiesen, später war er Patient im Landeskrankenhaus Göttingen. Klingebiel galt als unheilbar, wurde nach dem NS- Erbgesundheitsgesetz zwangssterilisiert, überlebte aber sogar die NS-Tötungsaktionen. Ab 1951 bemalte er alle Wände seiner Zelle im Verwahrungshaus Göttingen. Die „Klingebiel-Zelle“ gilt heute als solitäres Werk der Art Brut. ...
Zwei asiatische Kompositionen der Gegenwart, deren Ausgangspunkte schon geographisch nicht weiter auseinander liegen könnten, verbinden sich im Programm EINGESPERRT (nicht zuletzt dank der gegenseitigen Kontextualisierung mit Clemens Gadenstätters Klingebiel-Werk) zu einem ebenso vielschichtigen wie sinnlichen musikphilosophischen Diskurs über die persönliche Freiheit.
Dass diese Freiheit - wie im Falle der Uraufführung eines Auftragswerks von Ye Shen (*1977) aus Shanghai, vertonten chinesischen Dichters Hai-zi (1964-1989) zwar zu reichem Kunstschaffen, aber auch in den Suizid geführt hat, bezeichnet die psychologische Komplexität dieser Thematik.
Den nach außen gewendeten und von außen instrumentalisierten Blick thematisiert die taiwanesisch-amerikanische Komponisten Yu-hui Chang (*1970) in ihrer Auftragskomposition für Stimmen und Instrumente, über die Rolle der Künstlichen Intelligenz und Facial Recognition (Gesichtserkennung) und ihrer Wirkung auf das Individuum: das eigene Gesicht als Maske und als Gefängnis.
Auf Websiten einzelner Veranstaltungsorte wurde der Ankündigungstext in englischer und in französischer Sprache publiziert:
"Until his death, the Art Brut artist Julius Klingebiel was a victim of sociopolitical exclusion due to his illness of paranoid schizophrenia. Specially commissioned works by Clemens Gadenstätter, Yu-Hui Chang and Ye Shen are dedicated to him and the complexity of the subject matter..." in: ZKM | Center for Art and Media, Karlsruhe.
"Le projet «EINGESPERRT – Stimmen aus dem Kopfgefängnis » (Enfermé – les voix de la prison dans la tête) se consacre au destin de l’outsider Julius Klingebiel (1904-1965), un artiste allemand, un «autre», marginalisé par la société........" in: Enjoy Jazz, 2020.
Aus Pressestimmen:
"Das Hauptwerk hat Clemens Gadenstätter konzipiert, wenn er dem Schicksal des in der Psychiatrie einsitzenden, und knapp dem NS-Terror entkommenen Julius Klingebiel (1904-1965) nachspürt. Der hat seinen Raum in vielen Jahren immer wieder ausgemalt, übermalt, mit anderen Motiven übersät. „die zelle“ für Stimmen, Ensemble und Elektronik begibt sich mit enervierenden Formeln ins Innenleben eines Menschen, der aus dem äußeren Käfig innere Freiräume sucht und sich die eigene Welt schafft. Gadenstätter setzt dessen Biographie ein Denkmal aus in sich kreisenden, wellenförmigen Klangräumen." (Eckhard Britsch, 26.10.2020 im Mannheimer Morgen).
"Die Klangwelten, die Gadenstätter heraufbeschwört .. bilden ein Stück weit die akustische Welt des Julius Klingebiel .. ab. ... Faszinierend sind diese im wahrsten Wortsinn unerhörten Klangwelten dennoch, sie irritieren, ja verstören, und üben einen eigenartigen Sog aus, dem man sich nicht entziehen kann." (Michael Schäfer am 28.10.2020 im Göttinger Tageblatt, S. 14)